Codex Ephraemi Rescriptus

Manuskripte des Neuen Testaments
PapyriUnzialeMinuskelnLektionare
Unzial 04
Apg 10,27–42 LUT
(BnF, Grec 9, fol. 96 v.)
Name Ephraemi Rescriptus
Zeichen C
Text Altes und Neues Testament
Sprache Griechisch
Datum 5. Jahrhundert
Lagerort Bibliothèque nationale de France
Größe 33 × 27 cm
Typ Mischtyp
Kategorie II

Der Codex Ephraemi (Syri) Rescriptus („von neuem beschriebener Codex Ephraems (des Syrers)“, von Rahlfs bezeichnet als C, von Gregory-Aland bezeichnet als C oder 04) ist ein Palimpsest, der in der Bibliothèque nationale in Paris verwahrt wird (BnF, Grec 9). Überschrieben wurden 209 Blätter einer koine-griechischen Vollbibel aus dem frühen 5. Jahrhundert: 64 Blätter aus den Weisheitsschriften des Alten Testaments sind enthalten, vom Neuen Testament sind es 145.[1] Der obere, im 12./13. Jahrhundert geschriebene Text enthält asketische Traktate Ephraems des Syrers.

Obwohl der Codex Ephraemi zusammen mit den Codices Sinaiticus, Alexandrinus und Vaticanus zu den vier großen spätantiken biblischen Majuskelhandschriften gehört, wurde er wenig erforscht.

Kodikologie

Beschreibmaterial

Vom spätantiken Bibelcodex blieben 208 Pergamentblätter mit den Abmessungen 33 × 27 cm erhalten. Als Konstantin Tischendorf 1840–1842 seine Transkription anfertigte, waren es noch 209 Blätter. Der Verlust von fol. 138 wurde im Jahr 1883 festgestellt.[2]

Verglichen mit den drei anderen biblischen Majuskelcodices der Spätantike, hat das Pergament des Codex Ephraemi eine etwas geringere Qualität, und der Erhaltungszustand der einzelnen Blätter ist unterschiedlich. Einige Blätter sind gut erhalten, einige wenige völlig durchlöchert. Löcher im Pergament gehen meist auf die Rasuren eines Korrektors zurück. Der Schreiber der Traktate Ephraims war nicht besonders daran interessiert, die untere Schrift zu löschen, und verließ sich offenbar darauf, dass die eigene dunklere Tinte sich deutlich vom Untergrund abheben würde.[3]

Lagen und Linierung

Der Text ist in auf jeder Seite in einer breiten, beiderseits mit senkrechten Linien abgegrenzten Kolumne angeordnet. Meist weist sie 41, gelegentlich 42 Zeilen auf. Die vier Seiten des 1. Petrusbriefs haben abweichend jeweils 46 Zeilen.[4]

Tinte

Der Haupttext wurde mit der in der Antike üblichen sepia-braunen Eisengallustinte geschrieben. Durch Anwendung der Giobertschen Tinktur bei der Entzifferung des Codex in den 1830er/1840er Jahren hat sich diese Tinte dunkelblau, blaugrün oder schwarz verfärbt. Die zum Rubrizieren verwendete rote Tinte ist spurlos verblichen. Dies führte unter anderem zum Verlust des Textes der jeweils ersten Zeilen jedes biblischen Buchs, denn diese waren durch rote Schrift hervorgehoben.[5]

Bindung

Vom spätantiken Bibelcodex lassen sich 44 Lagen zu je acht Blättern (Quaternionen) rekonstruieren, von denen 15 zum Alten und 29 zum Neuen Testament gehörten. Außerdem blieben sechs einzelne Blätter erhalten. Nach seiner Aufnahme in die Pariser Königliche Bibliothek im Jahr 1610 wurde der Codex neu gebunden.[6]

Schreiber und Korrektoren

Der Bibeltext wurde in Majuskelschrift ohne Worttrennung (in Scriptio continua) geschrieben. Die Form der Buchstaben ähnelt der Bibelunziale des Codex Alexandrinus; die Buchstaben sind etwas größer als in den drei anderen spätantiken Bibelcodices. Der Anfangsbuchstabe eines Abschnitts steht in größerer Schrift herausgerückt am linken Kolumnenrand. Die üblichen Nomina sacra werden verwendet. Als Interpunktionszeichen ist der Hochpunkt üblich.[7]

Wie bereits Tischendorf feststellte, wurden Altes und Neues Testament im Codex Ephraemi Rescriptus von verschiedenen Schreibern kopiert. Unklar ist aber, ob am Neuen Testament mehrere Hände beteiligt waren. Robert W. Lyon sah Indizien für einen Schreiberwechsel im Johannesevangelium (abweichende Orthographie) und in der Apostelgeschichte. Der Schreiber der Apostelgeschichte fällt durch seine Nachlässigkeit auf, die griechische Sprache war ihm nicht gut vertraut.[8]

Jeder Schreiber korrigierte seine eigene Arbeit; dabei geht es meist um (textkritisch uninteressante) Schreiberversehen. Für einen Prachtcodex irritierend ist, wie wenig Mühe sich die Schreiber hierbei gaben. Text wurde gelöscht, um anschließend überschrieben zu werden; aber der gelöschte Text blieb weiter sichtbar. Der erste Korrektor wird mit paläographischen Kriterien ins 6. Jahrhundert datiert. Üblicherweise löschte er Text und überschrieb ihn in seiner kleinen Handschrift, nur wo es anders nicht ging, wich er auf den Seitenrand aus. Er bearbeitete das ganze Manuskript mit einem Schwerpunkt im Markus- und Johannesevangelium sowie den Katholischen Briefen. Obwohl ihm der Text der Apostelgeschichte reichlich Anlass zum Korrigieren geboten hätte, zeigte er in diesem Buch wenig Initiative. Tischendorf lokalisierte diesen Korrektor in Palästina, offenbar weil er annahm, der Codex sei in Ägypten geschrieben worden und befand sich später in Konstantinopel – da liegt Palästina auf dem Wege. Tatsächlich gibt es keine belastbaren Argumente zur Lokalisierung des ersten Korrektors.[9] Der zweite Korrektor war im 9. Jahrhundert tätig, kurz bevor die Majuskel- von der Minuskelschrift abgelöst wurde. Ohne Rücksicht auf das Erscheinungsbild der Seite füllte er die Ränder mit seinen Einträgen meist liturgischer Art. Er präparierte den Codex dafür, bei der Lesung im Gottesdienst genutzt zu werden. Tischendorf lokalisierte den zweiten Korrektor in Konstantinopel.[10]

Inhalt

Altes Testament

Vom griechischen Alten Testament (Septuaginta) blieben Fragmente der sechs Weisheitsschriften (Hexasophon) erhalten: Ijob, Buch der Sprichwörter, Kohelet, Hohes Lied, Buch der Weisheit und Jesus Sirach.

Neues Testament

Im Neuen Testament bestehen folgende Lücken:

Der Text scheint aus allen bedeutenderen Texttypen zusammengesetzt zu sein und stimmt oft mit dem Koine- oder byzantinischen Text überein.[11]

Provenienz

Die Form der Minuskelschrift deutet darauf hin, dass sich der Codex im 12./13. Jahrhundert, als er mit Traktaten Ephraems überschrieben wurde, auf Zypern oder in Palästina befand.[12]

Möglicherweise brachte der griechische Humanist Andreas Johannes Laskaris († 1534) den Codex von einer Bibliotheksreise in den östlichen Mittelmeerraum mit nach Italien, wo er erstmals im Besitz des Kardinals Niccolò Ridolfi nachweisbar ist, später in der Bibliothek von Piero Strozzi, die bis 1560 in Rom aufgestellt war. Caterina de’ Medici brachte ihn 1602 als Teil ihrer Mitgift nach Paris. In der Regierungszeit Heinrichs IV. wurde Caterinas Privatbibliothek in die Königliche Bibliothek eingegliedert.[13]

Entzifferung

Matt. 1,2–18 (Tischendorfs Transkription)

Dem Gräzisten Jean Boivin, der seit 1692 die königliche Bibliothek in Paris leitete, wird meist die Entdeckung zugeschrieben, dass es sich beim Codex Ephraemi um einen Palimpsest handelte, dessen untere Schrift ein spätantikes Bibelmanuskript war. Bekannt wurde der Codex Ephraemi Rescriptus durch die Beschreibung (mit Illustration) in Bernard de Montfaucons Palaeographia Graeca (Paris 1708). Seither wurde der Codex häufig, allerdings zunächst mit geringem Erfolg, für den Text des griechischen Neuen Testaments herangezogen. Den Anfang machte Ludolph Küster, der John Mills Edition 1710 und 1723 nachdruckte und dabei Lesarten des Codex Ephraemi Rescriptus verzeichnete, die Boivin ihm mitgeteilt hatte.

Der Leipziger Neutestamentler Ferdinand Florens Fleck wandte 1834/35 mit Zustimmung des Bibliothekars Karl Benedikt Hase erstmals chemische Mittel an. Er benutzte die Giobertsche Tinktur, eine salzsaure wässrige Lösung von Kaliumhexacyanidoferrat(II), auch gelbes Blutlaugensalz genannt. Sie wurde von dem Turiner Chemiker und Mineralogen Giovanni Antonio Giobert entwickelt und von Amedeo Peyron 1824 erstmals mit Erfolg bei einem Palimpsest angewandt. Das Rezept Gioberts teilte Victor Gardthausen mit:[14] „6 Teile Wasser, 1 Teil acidum muriaticum (Salzsäure), 1/8 prussiat de potasse (kali zooticum, Kaliumhexacyanidoferrat(II)).“ Wenn der Text verblasst ist, weil das Eisen(II) aus der Tinte zu Eisen(III) oxidiert ist, so bildet sich durch Reaktion von Kaliumhexacyanidoferrat(II) mit den Eisen(III)-Ionen ein tiefblauer Niederschlag von Berliner Blau. Fleck berichtete später, dass durch Anwendung der Tinktur in der Pariser Handschrift „Manches an das Tageslicht trat, was bisher auch dem scharfsichtigsten Falkenauge der Gelehrten entgangen war.“[15] Andererseits nahm das Manuskript durch die Behandlung einen bleiben Schaden. Durch die Behandlung kam zutage, dass der spätantike Bibelcodex bei seiner mittelalterlichen Wiederverwertung auseinandergenommen und die Blätter neu geordnet wurden, wodurch sich der Bibeltext wie ein Puzzlespiel präsentierte.

Die bisher einzige gedruckte Ausgabe des unterliegenden Bibeltextes stammt von Tischendorf und wurde 1843 und 1845 veröffentlicht. Die Ausgabe bietet den Text entsprechend den Zeilen und Seiten in Majuskeln und in scriptio continua. Die Arbeit an diesem schwer zu entziffernden Text begründete Tischendorfs Ruf als Textkritiker.

Textausgaben

  • Konstantin Tischendorf: Codex Ephraemi Syri rescriptus, sive fragmenta Novi Testamenti. Tauchnitz, Leipzig 1843. (Digitalisat)
  • Konstantin Tischendorf: Codex Ephraemi Syri rescriptus, sive fragmenta Veteris Testamenti. Tauchnitz, Leipzig 1845. (Digitalisat)

Monographien

  • Michael Dormandy: Building a Book of Books. Textual Characteristics of the Early Greek Majuscule Pandects (= Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung, 54). De Gruyter, Berlin/Boston 2024, ISBN 978-3-11-099457-5.
  • Juan Hernández Jr.: Scribal Habits and Theological Influences in the Apocalypse: The Singular Readings of Sinaiticus, Alexandrinus, and Ephraemi (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 218). Mohr Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 978-3-16-149112-2.
  • William Henry Hatch: The Principal Uncial Manuscripts Of The New Testament. The University of Chicago Press, Chicago, 1939.
  • Frederic G. Kenyon: Der Text der griechischen Bibel. 2. Auflage, überarbeitet von A. W. Adams. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1961.
  • Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959. (Dissertation, Download)
  • Bruce M. Metzger: Manuscripts of the Greek Bible: An Introduction to Palaeography, Oxford University Press, Oxford 1981.
  • Philip Comfort: Encountering the Manuscripts: An Introduction to New Testament Paleography and Textual Criticism, Broadman & Holman Publishers, 2005.

Artikel

  • Felix Albrecht: Ephraemi Rescriptus, Codex. In: Encyclopedia of the Bible and Its Reception (EBR). Band 7, De Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-018375-7, Sp. 1025–1026.
  • Felix Albrecht: Codex Ephraemi Syri rescriptus: Neue Lesarten zum Septuagintatext des Koheletbuches. In: Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft. Band 122 (2010), S. 272–279.
  • Felix Albrecht: Palimpsesthandschriften der griechischen Weisheitsbücher in Majuskelschrift. In: Eberhard Bons et al. (Hrsg.): Die Septuaginta. Themen, Manuskripte, Wirkungen (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Band 444). Mohr Siebeck, Tübingen 2020, S. 501–514.
  • Felix Albrecht: Between Boon and Bane. The Use of Chemical Reagents in Palimpsest Research in the Nineteenth Century. In: M.J. Driscoll (Hrsg.): Care and Conservation of Manuscripts 13. Proceedings of the Thirteenth International Seminar Held at the University of Copenhagen 13th–15th April 2011. Museum Tusculanum Press, Kopenhagen 2012, S. 147–165. (Online)
  • Patrick Andrist: Au croisement des contenus et de la matière: les structures des sept pandectes bibliques grecques du premier millénaire. Étude comparative sur les structures des contenus et de la matérialité des codex Vaticanus, Sinaiticus, Alexandrinus, Ephrem rescriptus, Basilianus, «Pariathoniensis» et de la Biblia Leonis. In: Scrineum Rivista, Band 17/2 (2020), S. 3–106. (Online)
  • Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. In: New Testament Studies, Band 5 (1959), S. 260–272. (Zusammenfassung von Lyons ungedruckter Dissertation)
  • Thomas Pattie: The Creation of the Great Codices. In: John Sharpe III, Kimberly Van Kamp (Hrsg.) The Bible as Book: The Manuscript Tradition. The British Library, London 2002, S. 61–72.

Weblinks

Commons: Codex Ephraemi – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  • Codex Ephraemi Rescriptus. Eintrag im Rahlfs-Katalog der Göttinger Septuaginta, verfasst von Felix Albrecht, veröffentlicht am 28. Juni 2023 (englisch)
  • Codex Ephraemi Syri Rescriptus (Digitalisat)

Anmerkungen

  1. Kurt und Barbara Aland: Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1989, S. 118. ISBN 3-438-06011-6
  2. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 6.
  3. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 5 f.
  4. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 6 f.
  5. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 5.
  6. Felix Albrecht: Ephraemi Rescriptus, Codex. In: Encyclopedia of the Bible and Its Reception (EBR). Band 7, De Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-018375-7, Sp. 1025–1026.
  7. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 8 und 15.
  8. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 16–18.
  9. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 19–24.
  10. Robert W. Lyon: A Re-examination of Codex Ephraemi Rescriptus. University of St Andrews, 1959, S. 24–26.
  11. Codex Ephraemi Rescriptus
  12. Felix Albrecht: Palimpsesthandschriften der griechischen Weisheitsbücher in Majuskelschrift, Tübingen 2020, S. 503 f.
  13. Felix Albrecht: Ephraemi Rescriptus, Codex. In: Encyclopedia of the Bible and Its Reception (EBR). Band 7, De Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-018375-7, Sp. 1025–1026.
  14. Victor Gardthausen: Griechische Palaeographie, Band 1. Zweite Auflage. Veit, Leipzig 1911, S. 108.
  15. Ferdinand Florens Fleck: Ueber die Handschrift des neuen Testamentes, gewöhnlich Codex Ephraemi Syri rescriptus genannt, in der königlichen Bibliothek zu Paris, mit allgemeineren Bemerkungen über biblische Kritik und biblisch-kritische Reisen in unserem Zeitalter. In: Theologische Studien und Kritiken, Band 14 (1841), S. 126–152, hier S. 127. (Digitalisat)