Kindheitsevangelium nach Thomas

Das Kindheitsevangelium nach Thomas (abgekürzt KThom) gibt vor, eine Reihe von Wundern zu erzählen, welche Jesus im Alter von 5 bis 12 Jahren vollbrachte. Es ist eine apokryphe Schrift. Sie entstand vermutlich Ende des 2. Jahrhunderts, als die vier kanonischen Evangelien in der Christenheit bereits fest etabliert waren. Ihr Autor ist unbekannt; in den meisten Handschriften wird er als „Thomas der Israelit“ bezeichnet.

Dieses Kindheitsevangelium hat nichts mit dem so genannten Thomasevangelium zu tun.

Inhalt

Berichtet wird von Kindheitstaten Jesu von Nazareth: Nach dem KThom war Jesus nicht erst seit seinem Auszug in die Wüste, sondern schon sehr früh zu wundersamem Wirken fähig. Die Schrift berichtet vor allem von Heilungen durch das Kind Jesus. Sie berichtet aber auch von wertneutralen Wundern und destruktiven Taten des jungen Jesus. Im Folgenden eine Auswahl der bekanntesten Erzählungen:

Jesus und die Tonvögel

Im Alter von sechs Jahren (in leicht abweichenden Schriften ist er sieben) trifft sich Jesus mit anderen Knaben in einer verlassenen Lehmgrube. Die Kinder formen aus Lehm allerlei Vogelfiguren und erfreuen sich daran. Ein „alter Jude“ (bzw. ein alter Rabbiner) sieht dies und schimpft mit den Kindern, weil Sabbat ist und Handwerkskünste am Sabbat untersagt sind. Als Jesus dem Alten sagt, dass es diesem nicht zustünde, die Kinder so zu schelten, will der Rabbiner die Lehmfiguren zertreten. Geschwind klatscht Jesus in die Hände und ruft den Figuren zu, sie sollen davonfliegen. Da werden die Figuren lebendig und fliegen laut schreiend davon.

Jesus und Zenon

Als Jesus mit einigen Nachbarskindern auf den Flachdächern von Nazareth spielt, fällt der kleine Zenon in die Tiefe und bleibt tot liegen. Einige Spielkameraden (nach abweichenden Schriften sind es Nachbarn) behaupten, Jesus habe Zenon beim Spielen geschubst. Jesus bestreitet die Tat und fordert die Eltern des toten Knaben auf, ihr Kind zu befragen. Dazu geht Jesus zu Zenon hin, sagt zu diesem: "Erwache!" und tatsächlich kehrt Zenon ins Leben zurück. Dann erzählt Zenon seinen Eltern, dass er auf dem Dachrand daneben getreten sei und deshalb vom Dach fiel. Jesus war demnach unschuldig. Danach lässt Jesus den Knaben wieder sterben.

Jesus und der Wasserkrug

Maria bittet Jesus, ihr doch etwas Wasser aus dem nahen Brunnen zu holen und gibt dem Knaben einen Krug mit. Während Jesus mit den anderen Kindern Wasser schöpfen will, entgleitet ihm der Krug und zerbricht. Die Kinder sind untröstlich, weil sie ihre Krüge nicht hergeben können. Doch Jesus tröstet sie und trägt das Wasser in seiner Schürze nach Hause, ohne einen Tropfen zu verschütten. Nach einer erweiterten Überlieferung wollen die anderen Kinder es Jesus gleichtun, zerbrechen ihre Krüge mutwillig und können das Wasser nicht in ihren Schürzen heimtragen. Als Jesus die Kinder bitterlich weinen sieht, fügt er ihre Krüge mittels seiner Kräfte wieder zusammen.

Jesus und Zachäus

Nachdem Jesus einen Jungen mittels seiner Kräfte im Streit getötet hat, entschließt sich Josef, den Knaben zu dem Gelehrten Zachäus zu geben. Dieser bietet an, Jesus zu unterrichten und ihn „Sitte und Anstand“ zu lehren. Doch schon bald kommt es zwischen Jesus und Zachäus zu erbitterten Wortgefechten, als es um die Deutung und Schreibung der Buchstaben geht. Als Jesus den Gelehrten zu korrigieren wagt, gibt Zachäus auf und spricht zu Josef: „So bitte ich Dich denn, Bruder Joseph, nimm dieses Kind zurück in Dein Haus. Denn dieser ist etwas Großes, ein Gott oder ein Engel, dass ich nicht weiß wie ich’s sagen soll.“

An die Geschichte um Jesus und Zachäus reihen sich weitere, sehr ähnlich vorgetragene Anekdoten an, die schließlich zu der auch in der Bibel überlieferten Geschichte führen, in welcher Jesus die Rabbiner und Vorleser eines jüdischen Tempels beeindruckt.

Handschriftliche Überlieferung

Es ist ungeklärt, in welcher Sprache die Schrift im Original abgefasst war. Als Zeitpunkt seiner Entstehung wird das Ende des 2. Jahrhunderts vermutet. Damals war der Kanon der Evangelien bereits festgelegt; für Irenäus von Lyon oder für den Kanon Muratori war die Vierzahl der Evangelien bereits eine Selbstverständlichkeit. Die fehlende Kenntnis jüdischer Bräuche verweist auf einen heidenchristlichen Autor.[1]

Das Evangelium war in griechischen, syrischen, hebräischen, lateinischen, georgischen und altkirchenslawischen Handschriften weit verbreitet. Es liegen verschieden lange griechische Versionen vor, die zahlreiche Textabweichungen aufweisen. Die bekannteste Version mit 19 Kapiteln geht auf Konstantin von Tischendorf zurück.[2]

Rezeption

Koran

Im Koran wird in Sure 5 auf die Geschichte im Kindheitsevangelium Bezug genommen, der zufolge Jesus Spatzen aus Lehm formte und sie zum Leben erweckte. Die Aussagen sind Bestandteil des Glaubens an Jesus im Islam:

„(Damals) als Gott sagte: Jesus, Sohn der Maria! Gedenke meiner Gnade, die ich dir und deiner Mutter erwiesen habe, […] und (damals) als du mit meiner Erlaubnis aus Lehm etwas schufst, was so aussah wie Vögel, und in sie hineinbliesest, so daß sie mit meiner Erlaubnis (schließlich wirkliche) Vögel waren. […]“

Sure 5, Vers 110: Übersetzung: Rudi Paret

Hochmittelalter (Europa)

Das Kindheitsevangelium nach Thomas wirkte „wie analoge Texte stimulierend auf die darstellende Kunst und Legendenliteratur seit dem Hochmittelalter“,[3] etwa die Darstellungen von Episoden aus der Kindheit Jesu im Klosterneuburger Evangelienwerk (14. Jahrhundert):

  • Jesus trägt Wasser in seinem Schoss heim, weil ihm der Wasserkrug zerbrochen ist; andere Kinder schauen verwundert zu.
    Jesus trägt Wasser in seinem Schoss heim, weil ihm der Wasserkrug zerbrochen ist; andere Kinder schauen verwundert zu.
  • Jesus überreicht Maria das Wasser in seinem Schoss.
    Jesus überreicht Maria das Wasser in seinem Schoss.
  • Jesus setzt die zerbrochenen Krüge der Kinder, die es ihm gleichtun wollten und mutwillig ihre Krüge zerschlagen hatten, wieder zusammen.
    Jesus setzt die zerbrochenen Krüge der Kinder, die es ihm gleichtun wollten und mutwillig ihre Krüge zerschlagen hatten, wieder zusammen.
  • Jesus befiehlt dem zimmernden Joseph, einen toten Mann aufzuerwecken.
    Jesus befiehlt dem zimmernden Joseph, einen toten Mann aufzuerwecken.
  • Joseph erweckt den Toten auf der Bahre.
    Joseph erweckt den Toten auf der Bahre.
  • Beim Spielen fällt das Kind Zenon vom Dach eines Hauses, zwei Juden beschuldigen Jesus, ihm einen Stoß gegeben zu haben.
    Beim Spielen fällt das Kind Zenon vom Dach eines Hauses, zwei Juden beschuldigen Jesus, ihm einen Stoß gegeben zu haben.
  • Jesus erweckt das tote Kind wieder, damit es den Anschuldigern gegenüber Jesu Unschuld bezeugt.
    Jesus erweckt das tote Kind wieder, damit es den Anschuldigern gegenüber Jesu Unschuld bezeugt.
  • Jesus fängt mit anderen Kindern am Sabbat Fische.
    Jesus fängt mit anderen Kindern am Sabbat Fische.
  • Ein Jude, der die Kinder darob tadelt, fällt auf der Stelle tot um.
    Ein Jude, der die Kinder darob tadelt, fällt auf der Stelle tot um.
  • Die Kinder verklagen Jesus deshalb bei erwachsenen Juden.
    Die Kinder verklagen Jesus deshalb bei erwachsenen Juden.
  • Auf die Bitte Marias und Josephs erweckt Jesus den Toten wieder.
    Auf die Bitte Marias und Josephs erweckt Jesus den Toten wieder.
  • Jesus spielt mit Löwen und führt sie bis vor das Stadttor. Die Stadtbewohner fürchten sich.
    Jesus spielt mit Löwen und führt sie bis vor das Stadttor. Die Stadtbewohner fürchten sich.
  • Jesus macht die Tonvögelchen seiner Spielkameraden lebendig.
    Jesus macht die Tonvögelchen seiner Spielkameraden lebendig.
  • Jesus streitet mit dem Lehrer Zacharias über die Natur der Buchstaben; der Lehrer will ihn mit der Rute züchtigen.
    Jesus streitet mit dem Lehrer Zacharias über die Natur der Buchstaben; der Lehrer will ihn mit der Rute züchtigen.

Literarische Einschätzung

Die Kindheitsevangelien sind insgesamt als „Zeugnisse der Volksfrömmigkeit“ zu würdigen,[4] nicht aber als historisch auswertbare Quellen nutzbar.[5][6] Das KThom „schildert anschaulich, wie das Leben eines Kindes, das schon als Sohn Gottes und mit aller Macht ausgestattet zur Welt kommt, aussehen könnte. […] Ein besonderer Reiz entsteht dadurch, dass in der Antike die Kindheit wesentlich durch Macht- und Rechtlosigkeit bestimmt ist, und genau dies für Jesus nicht gilt“.[7]

Literatur

  • Tony Burke (Hrsg.): De infantia Iesv evangelivm Thomae (= Corpvs Christianorvm: Series Apocryphorum. 17). Brepols, Turnhout 2010, ISBN 978-2-503-53419-0 (Textausgabe, griechisch).
  • Gerhard Schneider (Hrsg.): Evangelia infantiae apocrypha / Apokryphe Kindheitsevangelien. (= Fontes Christiani. 1. Folge 18). Herder, Freiburg 1995, ISBN 3-451-22233-7, S, 147–171 (Textausgabe, griechisch-deutsch).
  • Alfred Schindler (Hrsg.): Apokryphen zum Alten und Neuen Testament. Manesse, Zürich 1988, ISBN 3-7175-1756-2 (Textausgabe, deutsch).
  • Sofia Donka Petkanova: Kindheitslegenden Jesu. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 7. de Gruyter, Berlin 1993, ISBN 3-11-013478-0, Sp. 1355–1361 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  • Philipp Vielhauer: Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die apostolischen Väter. de Gruyter, Berlin/New York 1978, ISBN 3-11-007763-9, S. 672–678 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  • Robert McLachlan Wilson: Apokryphen II. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 3, de Gruyter, Berlin / New York 1978, ISBN 3-11-007462-1, S. 316–362.
  • Ursula Ulrike Kaiser: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band in zwei Teilbänden: Evangelien und Verwandtes, 7. Auflage. Mohr-Siebeck, Tübingen 2012, ISBN 978-3-16-149951-7, S. 930–959.

Weblinks

  • Jesus, der Zimmermann (Auszüge aus dem Kindheitsevangelium)
  • Reidar Aasgaard: Kindheitsevangelium nach Thomas (KThom). In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff.; (erstellt: Juli 2012; letzte Änderung: Juni 2023)

Anmerkungen

  1. Edgar Hennecke, Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1: Evangelien, Tübingen 1968, S. 192.
  2. Hans-Josef Klauck: Apocryphical Gospels – An Introduction. Clark, London/New York 2003, ISBN 0-567-08390-X, S. 73 f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. Klaus-Gunther Wesseling: Thomas, Apostel Jesu Christi. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 9, Bautz, Herzberg 1995, ISBN 3-88309-058-1, Sp. 1292–1323 (Artikel/Artikelanfang im Internet-Archive).
  4. Thomas Söding: Apokryphe Weihnachten? Die Bibel und die Volksfrömmigkeit. Münster o. J., S. 1 f. (online; PDF; 69 kB). Abgedruckt unter dem Titel: Apokryphe Weihnachten? Ochs und Esel, Stall und Krippe, Jungfrau und Kind. In: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück, ISSN 1865-2832, Bd. 57 (2005), S. 355–361.
  5. Philipp Vielhauer, in: Edgar Hennecke, Wilhelm Schneemelcher: Apokryphen des Neuen Testaments. S. 672 ff.
  6. Hans-Josef Klauck: Apocryphical Gospels – An Introduction. Clark, London/New York 2003, ISBN 0-567-08390-X, S. 64 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche): “One should not expect historically reliable information, even in exceptional cases, from this literature.”
  7. Judith Hartenstein: Kindheitsevangelium nach Thomas (KThom). In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff., abgerufen am 20. Januar 2014.
Normdaten (Werk): GND: 4466792-9 (lobid, OGND, AKS) | LCCN: n82122579 | VIAF: 184287220